Paul Feyerabend: Erkenntnis für freie Menschen „Die Sehnsucht nach schimmernder Klarheit ist eine emotionale Einstellung, so wie ein desinfiziertes Badezimmer“

Sachliteratur

Paul Feyerabend, der in den 80ern auch an der ETH Zürich gelehrt hat (und von einigen Medien mit den Zürcher Unruhen in Verbindung gebracht wurde), könnte heute ein wichtiger Besinnungsbaustein zu sein.

Der österreichische Philosoph und Wissenschaftstheoretiker Paul Feyerabend in Berkeley.
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Der österreichische Philosoph und Wissenschaftstheoretiker Paul Feyerabend in Berkeley. Foto: Grazia Borrini-Feyerabend (PD)

2. November 2021
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Korrektur
Der Name Paul Feyerabend begegnete mir in kleinen anarchistisch geprägten Zeitschriften in den Achtzigern. Ich las nie etwas von ihm. Mich interessierte weder "die Wissenschaft" noch eine fundamentale Kritik daran. Was sich an den Unis abspielte, war nicht meine Welt. Seine Arbeit am Mythos der Vernunft, seine Rehabilitierung von Begriff und Inhalt der "Traditionen" und ihrer Funktionen haben mich erst jetzt wirklich begeistert, als mir seit der "Corona-Zeit" die ewige Bemühung der einen und einzigen Wissenschaft mit ihrer unhinterfragbaren Wahrheit zunehmend auf die Nerven ging.

So eine steile These wie "Das Vorherrschen der Wissenschaften bedroht die Demokratie" und "Laien können und müssen die Wissenschaften überwachen" liess mich aufhorchen und weiterlesen.

Ich fräste mich durch sein Buch Erkenntnis für freie Menschen und die Darlegung eines "demokratischen Relativismus", der nicht von oben her eingeführt wird, sondern von innen, "von jenen Menschen also, die unabhängig werden wollen, und in der Weise, die ihnen am bequemsten erscheint."

Sehr schön, nebenbei, sehr un-wissenschaftlich und anti-protestantisch der Begriff "bequem" in diesem Zusammenhang.

"Nicht intellektuelle Pläne zählen, sondern die Wünsche, die Klagen, die Mittel, das Temperament jener Menschen, die eine Veränderung anstreben."

Sein Buch ist ein entschiedenes Plädoyer für einen "Theorienpluralismus" und für eine Ausarbeitung und Verbreitung von Wissen ausserhalb von staatlichen Institutionen: die demokratische Gesellschaft darf nicht "den Institutionen überlassen werden, die sie enthält; sie muss diese Institutionen überwachen und kontrollieren."

Da ich selbst keine Wissenschaftlerin bin, hat mich an diesem Buch eher das allgemein Anwendbare interessiert, die dem Leben in seiner Vielschichtigkeit zugewandte Offenheit. Und als gesellschaftlich denkender und empfindender Mensch hat mich besonders fasziniert, wie die Erörterungen um die "Freiheit der Wissenschaften" sich auf den Entwurf oder die Praxis einer freien Gesellschaft übertragen lassen.

Von der Kritik der Wissenschaften, die institutionell betrieben werden, geht Feyerabend aus. Wie die "Welt" ist auch die "Welt der Wissenschaft ... eine komplexe und zersplitterte Entität, die durch Theorien und einfache Regeln nicht erfasst werden kann." Feyerabend liebte Johann Nestroy und die Dadaisten für ihre entlarvende Lust an der Dekonstruktion, der Blossstellung der "Normalität".

"Wissenschaften sind nicht Bedingungen der Rationalität, der Freiheit, sie sind nicht Voraussetzungen der Erziehung, sie sind Waren. Die Wissenschaftler selbst aber sind Verkäufer dieser Waren, sie sind nicht Richter über wahr und falsch. Sie sind höchstens bezahlte Diener der Gesellschaft, sie werden angestellt, um gewisse beschränkte Aufgaben zu lösen, und zwar unter Aufsicht der Bürger, die allein über die Natur der Aufgaben und die Art ihrer Ausführung entscheiden." Das "Business" der Wissenschaften hat sich seit Ende der siebziger Jahre, als Feyerabend diese Thesen schrieb, vervielfacht. Ebenso das "Business" der Kultur.

Dem Begriff, der Methode und der Hybris der Wissenschaftlichkeit stellt Feyerabend die Traditionen gegenüber, die aus allen möglichen Erkenntnisprozessen entstanden sind oder weiter entstehen. Erkenntnisse werden verifiziert oder kritisiert, sie entwickeln sich ständig weiter: Jede Regel (jedes Recht) hat Ausnahmen - "wichtig ist, wer über die Ausnahmen entscheidet und welche Grundregeln man als Ausgangspunkt der Diskussion wählt. ... Ausgangspunkt ist die Gleichberechtigung aller Traditionen."

Seine Kritik des Rationalismus (er war Schüler Karl Poppers) durchzieht das ganze Buch.

"Im Leben entscheidet der Wettstreit vieler Werte, nicht ein einzelner Wert - und dieser Wettstreit ist immer das Ergebnis (individueller und damit auch kollektiver) Entschlüsse. Damit werden Traditionen zu Grundelementen der Gesellschaft."

Weltsichten, Welterkenntnisse haben sich immer durch Intuition, durch Abirren, durch spontane Ideen, durch Freude, Neugierde etc. entwickelt, nicht durch Festhalten an Gerüsten und Denkmethoden. Und alle Kulturen der Welt haben voneinander gelernt oder können dies tun, denn "jede Kultur birgt potentiell alle Kulturen in sich und bestimmte kulturelle Züge sind nichts anderes als die wandelbaren Ausdrucksformen einer einzigen menschlichen Natur."

Das heisst, dass keine "kulturellen Besonderheiten sakrosankt sein können. Es gibt keine 'kulturell gerechtfertigte' Unterdrückung ..." Jede Kultur ist veränderbar, jede Tradition ist veränderbar, und diese Veränderung geschieht, bestenfalls und zum Wohle aller Beteiligten, durch freien Austausch.

"Eine Gesellschaft, die viele Traditionen enthält, stellt dem Bürger bessere Mittel zur Verfügung als eine Gesellschaft mit einer einzigen Grundideologie. ... Wir lernen, dass eine 'rationale Diskussion' soziale Probleme oft verschärft und nicht löst." Niemand, kein einzelner Mensch, keine Institution, keine Wissenschaft hat das ausschliessliche Recht auf Wahrheit. Immer gibt es das Recht auf Widerspruch, auf Ergänzung, auf den Wechsel der Perspektive:

Die Massstäbe, die eine Entscheidung leiten sollen, müssen durch den Prozess der Entscheidung verändert werden. "Die Kritik beruht hier nicht mehr auf vorgegebenen Massstäben, sondern auf Massstäben, die im Akt des Kritisierens erst entstehen: man baut Stück für Stück eine neue Tradition auf, um einen Bezugspunkt für die Kritik einer noch ohne Rivalen dastehenden Tradition zu erhalten."

Sehr interessant in gesellschaftlichen Situationen jeder Art ist der Prozess der Kritik, der Herausbildung von Kritik: "Man kritisiert ohne sichtbare Mittel der Kritik, rein intuitiv eine Lebensform vorausahnend, die diese Mittel bereitstellen wird. Man kann die Lebensform nicht beschreiben, denn sie ist noch nicht da, man hat keine Gründe für die Unzufriedenheit, man drückt sie aber doch aus und schafft so die Tradition, die dann Jahrzehnte später den Prozess verständlich macht und mit Gründen versieht. Man argumentiert nicht, man behauptet, beklagt sich, man widerspricht und schafft so die Prinzipien der Argumente, die der Klage und dem Widerspruch Sinn verleihen."

Feyerabend nennt diese Kritik aufgrund noch nicht existierender Massstäbe eine antizipierende Kritik (Beschreibung, Anregung etc.) Im Gegenteil dazu das, was man eine institutionalisiere Kritik nennen würde: "Die Teilnehner eines gelenkten Austausches akzeptieren eine Tradition und lassen nur jene Handlungen (Überlegungen, Argumente, Prozeduren) zu, die den Massstäben dieser Tradition entsprechen. ... Eine rationale Diskussion ist ein Spezialfall eines gelenkten Austausches." Nur Rationalisten nehmen daran teil. "Man muss das Spiel der Intellektuellen spielen." Oder das Spiel der Politik.

"Ein freier Austausch hingegen beruht auf einer pragmatischen Philosophie und antizipierenden Überlegungen. Er konstruiert die Tradition, die ihn beheimaten soll, und passt sie an die besonderen Umstände an." Bei einem freien Austausch vertiefen sich alle in die unterschiedlichen Sichtweisen, Gefühle, Anregungen, Vorbehalte der anderen. Durch diesen offenen Austausch werden sie "neue Menschen, mit einem neuen Blick, neuen Ideen, neuen Bewertungen."

Sehr gut konnte man diesen Ansatz in den weltweiten Platzbesetzungen der letzten Jahre beobachten, bis hin zu den Besetzungen der Kreisverkehrsinseln der Gelbwesten in Frankreich. Überall begann diese Art Austausch über die Bedürfnisse und Werte. Es wurden neue Traditionen gebildet bzw. alte wieder belebt und neu gewürdigt.

"Eine freie Gesellschaft ist eine Gesellschaft, in der alle Traditionen gleiche Rechte und gleichen Zugang zu den Zentren der Erziehung und anderen Machtzentren haben." Die Wahl einer Tradition als Grundlage einer "freien" Gesellschaft ist ein Akt der Willkür. Die Grundlage einer freien Gesellschaft ist "eine Schutzstruktur. Diese Grundlage gibt dem Zusammenleben keinen Inhalt, bewahrt es aber vor störenden Einflüssen. Sie funktioniert wie ein Eisengitter, nicht wie eine Überzeugung."

Wie wird diese Struktur aufgebaut? Feyerabend scheut nicht vor dem Begriff der Polizei zurück. Darüber müsste natürlich diskutiert werden.

Auf jeden Fall werden der Schutz und seine Struktur nicht durch eine objektive, rationale Diskussion erreicht: "die Massstäbe einer solchen (rationalen) Diskussion sind nicht objektiv, sie sehen nur objektiv aus, weil die Gruppe nicht erwähnt wird, die aus der Verwendung der Massstäbe profitiert."

Hier kann man vielleicht noch einmal einhalten und Feyerabends Thesen historisch einordnen: er war in den sechziger, siebziger (und achtziger) Jahren Professor in Berkely (zudem in England, Deutschland, Italien, Neuseeland, der Schweiz). Er bekam dort an der US-amerikanischen Westküste die gesellschaftlichen Impulse der sechziger-siebziger Jahre mit und setzte diese in seinen philosophischen und wissenschaftstheoretischen Ideen um.

Er wehrte sich gegen die starre rationelle Vorstellung der universitären Wissenschaftlichkeit und liebte in seinen Vorträgen und Diskussionen die Provokation, die Überraschung und das Spiel. Dass er in den anarchistischen Blättern auftauchte, war der begrifflichen Zuschreibung seines "wissenschaftstheoretischen Anarchismus" zu verdanken, seiner Suche nach einem freien Raum hinter den angeblich allgemeingültigen wissenschaftlichen Massstäben und seiner Rehabilitierung der indigenen Kulturen, die damals in die politische Debatte drängten, auch in die anarchistische.

Eine freie Gesellschaft wird niemandem aufgezwungen, sie tritt dort hervor, "wo Menschen in dem Versuch, besondere Probleme gemeinsam zu lösen, Schutzstrukturen ... einführen."

Debatten, die eine freie Gesellschaft begründen, sind freie Verfahren, keine gelenkten Verfahren. "Der Rationalismus gehört daher nicht zur Grundstruktur einer freien Gesellschaft."

Das darf man auch heute noch oder gerade heute gerne zweimal lesen, man kann die Entstehung dieser These zwar in den Kontext der siebziger Jahre verorten, aber man sollte nicht vorschnell von unwissenschaftlicher Schwurbelei reden. Hier geht es um einen tiefgreifenden Begriff von Freiheit.

"Eine freie Gesellschaft trennt Staat und Wissenschaft (und sie trennt auch den Staat von jeder anderen Tradition)."

"In einer freien Gesellschaft löst man Probleme nicht mit Theorien, sondern durch die Entschlüsse der von den Problemen betroffenen Menschen. Die Entschlüsse sind natürlich von Theorien beeinflusst, aber die Theorien haben nicht das letzte Wort. Das letzte Wort ist der Schiedsspruch der freien Bürger, und dieser hängt ab von den Traditionen der Bürger und der durch diese Traditionen bedingten Sicht von Problemen und Lösungsvorschlägen: der Schiedsspruch ist antizipierend, nicht konservativ."

Wie weit dieser Freiheitsbegriff geht, der längst an der parmalentarischen Sitzordnung von Parteien vorbeigezogen ist, sieht man hier genauer:

"Abgelehnt werden alle Versuche besonderer Gruppen, am Menschen herumzupfuschen, ihn 'kritischer', 'frommer', 'humaner' (gesünder) etc. zu machen, sofern diese Versuche auf staatlichen Institutionen beruhen: die Qualität der Menschen geht den Staat nichts an." Wunderbar, die Provokation mit moralisch konnotierten Begriffen, wie hier die Prinzipienlosigkeit: Feyerabend empfiehlt eine prinzipienlose Gesellschaft, die Traditionen nicht nur respektiert, sondern zur Mitarbeit (an etwas Neuem) auffordert, und Prinzipien von Fall zu Fall durchsetzt.

Wissenschaften können eine befreiende Kraft sein, insofern sie den Individuen Raum zum Denken geben. Die "Entartung" von Wissenschaften oder Ideologien beginnt mit den ersten Anzeichen des Erfolgs, "sie erreicht ihren Höhepunkt mit der Vernichtung der Gegner: der Triumph von Ideen und Institutionen ist gewöhnlich auch ihr Ende."

Der für eine demokratische Gesellschaft wichtige Begriff der "Gleichheit" würde Gleichheit bzw. Gleichberechtigung von Traditionen unterschiedlicher Art bedeuten, nicht "Gleichheit des Zugang zu einer besonderen Tradition".

Traditionen, die zwar von Werten geleitet sind, sich aber nicht scheuen, diese Werte bei passender Gelegenheit zu verändern, und die die Werte anderer nicht verneinen, sondern sie gelten lassen und gelegentlich selbst übernehmen, nennt Feyerabend (er besetzt die Begriffe positiv): opportunistische oder eklektische Traditionen.

"Traditionen aber, die gewisse Grundwerte in die Welt hinausprojizieren, alle Ereignisse (der Geschichte, des Privatlebens, selbst der Natur) an ihnen messen und versuchen, die Welt durch Gewalt, Überredung oder institutionelle Machenschaften in ihre Richtung zu biegen, nenne ich dogmatische Traditionen."

Er ergänzt: "'Objektivität' ist das das Resultat einer erkenntnistheoretischen Kurzsichtigkeit, sie ist keine philosophische Leistung." Und er schlussfolgert: "Die Menschen haben das Recht, so zu leben, wie es ihnen passt, auch wenn ihr Leben anderen Menschen dumm, bestialisch, obszön, gottlos erscheint."

Zu den Grundlagen einer freien Gesellschaft gehören die durch Erfahrungen und Erkenntnisse gereiften teilnehmenden Menschen: "Eine freie Gesellschaft ist eine Versammlung reifer Menschen und nicht eine Herde von Schafen, geleitet von einer kleinen Gruppe von Besserwissern."

Reife lernt man durch die aktive Teilnahme an Entscheidungen. "Reife ist wichtiger als Spezialwissen, und man muss versuchen, sie zu verwirklichen, selbst wenn der Versuch die delikaten Scharaden der Wissenschaftler (der Politiker und anderer Fachleute) stören sollte. Es geht um die Anwendung spezieller Wissensformen, ob man ihnen vertrauen kann und wie sie sich zur Gesamtheit der menschlichen Existenz verhalten."

Diese Einzelaspekte in den Zusammenhang der menschlichen Existenz stellen, bedeutet ja immer wieder, die verschiedenen Entscheidungen an der Erlangung des Glücks zu messen. Wie verhalten sich einzelne Massnahmen zum gesamten Begriff und praktischer Erfahrung von Gesundheit und Lebensfreude? Nicht von ungefähr stellt Feyerabend die Erkenntnisse der Hopi neben die aktuelle Wissenschaft, das Handauflegen neben die invasive Medizin usw. Wer hat das Recht, von Überlegenheit zu sprechen? Wer hat das Recht, zu beurteilen?

"Fachleute sind voll von Vorurteilen, man kann ihnen nicht vertrauen und muss ihre Empfehlungen genau untersuchen."

"Einmütigkeit unter Wissenschaftlern ist oft das Ergebnis einer politischen Entscheidung: Abweichler werden unterdrückt, oder sie schweigen ..."

Diese Doktrin gilt nicht nur in der Jetztzeit, sie galt natürlich schon seit sehr langer Zeit. Trotzdem sind die bahnbrechenden Neuerungen immer durch Zweifel und Abweichung entstanden.

"Es gibt keine 'wissenschaftliche Methode'; es gibt keine einzige Prozedur, Regel, es gibt keinen Massstab der Vortrefflichkeit, der jeder Forschung unterliegt und sie 'wissenschaftlich' und daher vertrauenswürdig macht. Jedes Projekt, jede Prozedur, jede Theorie muss für sich und nach Massstäben gemessen werden, die an die relevanten Prozesse angepasst sind." Die Idee einer universellen und stabilen Rationalität ist ebenso unrealistisch wie die Idee eines Messinstruments, das jede Grösse in allen möglichen Umständen misst. Massstäbe werden im Prozess der Forschung produziert.

Eine unabhängige Wissenschaft hat schon lange zu existieren aufgehört und ist durch das "Business" Wissenschaft ersetzt worden. Die Traditionen und Denkweisen der indigenen Völker verschwanden übrigens nicht durch die Überlegenheit der Wissenschaft des "Weissen Mannes", sie wurden durch die Knute des Kolonialismus zerstört. Unter den Steinzeitmenschen verortet Feyerabend die beste ökologische Philosophie: "Sie kannten die Natur der Bewegung und betrachteten sie in ihren Grundgesetzen. Diese Grundgesetze beschrieben nicht die unveränderlichen Verhältnisse unveränderlicher Wesenheiten, sie waren Stories (Erzählungen/Narrative), und die Bestandteile der Welt wurden durch ihre Entwicklung und nicht mit Hilfe unveränderlicher Eigenschaften erklärt."

Die damaligen Erkenntnisse waren keine "instinktiven Entdeckungen, sie waren das Ergebnis des Denkens und der Spekulation."

Das Fernziel für Paul Feyerabend ist eine Gesellschaft, in der alle Traditionen gleiche Rechte und gleichen Zugang zu den Machtzentren der Gesellschaft, d.h. des "Traditionsverbandes" haben.

Wie gelangt man zu einer solchen Gesellschaft "reifer" Menschen? Ein wichtiger Baustein ist für Feyerabend die Teilnahme an Bürgerinitiativen, heute würde man sagen: an Strukturen der (staatsunabhängigen) Zivilgesellschaft. "Die Zeit ist vorbei, wo Grosse Geister, verbunden mit den Starken Kräften der Gesellschaft, das Leben der übrigen Menschen dirigieren konnten", und er ergänzt: "in Deutschland ist es allerdings noch lange nicht so weit."

Der zweite Baustein ist das Vergnügen: "Das Scherzen, die Unterhaltung, die Illusion, nicht 'die Wahrheit' macht uns frei." Man lernt Reife, indem man Irrtümer macht, und so muss es im Aufbau der Gesellschaft immer wieder Möglichkeiten geben, Irrtümer zu machen.

Um eine "andere Welt" zu bauen, sollten wir diese Gedanken berücksichtigen. Die Welt der Politik mit ihren Verlogenheiten und Phrasen ist so hohl wie nur was. Aber eine andere Art von Gemeinschaft, eine anti-staatliche, anti-institutionelle, wird nur zu bauen sein, wenn wir wirklich tief an den Begriff der Freiheit und Selbstgewissheit herangehen. Und wenn wir die in-dienst-stehenden, präfabrizierten Vorstellungen über die Welt, die Ökonomie, unsere Gesundheit, unser Leben kritisch befragen und bereit sind, sie ALLE hinter uns zu lassen.

Hanna Mittelstädt

Paul Feyerabend: Erkenntnis für freie Menschen. Edition Suhrkamp 1980. 304 Seiten. ca. 18.00 SFr., ISBN: 978-3-518-11011-9